“Triggerwarnung: stille Geburt”
Chaos und Liebe
Wenn Geburt und Tod aufeinandertreffen –
Gaels stille Geburt
Mein Kind heißt Gael David. Ich kannte mein Kind so gut. Ich wusste, wie er sein würde. Ich sah ihn, hörte ihn, roch ihn, spürte ihn. Für manche mögen dies Fantasien sein, aber für jede werdende Mutter ist all dies Realität. Eine Mutter kennt ihr Kind, lange bevor es geboren wird. Ich wusste, wie Gael reagieren würde, wenn seine große Schwester versucht hätte, ihn herumzukommandieren. Er würde ihren Spielregeln lächelnd zustimmen, nur um dann doch sein eigenes Ding zu machen. Ich hörte sein Lachen. Ich spürte seine Haare unter meinen Fingern. Ich sah sein breites Grinsen als junger Mann. Ich kannte mein Kind.
Gael veränderte uns seit dem Moment, in dem wir bemerkten, dass er bei uns war. Der Tag nachdem wir den positiven Schwangerschaftstest gemacht hatten, verbrachten mein Mann und ich in absoluter Euphorie. Wir fühlten uns mutig. Wir fühlten uns beschenkt. Deshalb wussten wir auch, welchen Namen wir ihm geben würden. Gael bedeutet „der Anführer“ oder auch „der Großzügige“. David bedeutet „der Geliebte“.
Wir übten seinen Namen viele Monate lang. Zusammen mit seinen Geschwistern. Wir übten ihn für alle möglichen Situationen. Leise, am Morgen, um zu sehen, ob er auch schon wach war und sich unseren Stimmen und Händen entgegenstreckte. Lachend, wenn wir uns das wunderschöne Chaos vorstellten bei uns zu Hause. Wir nannten seinen Namen voller Liebe und Vorfreude auf das Leben mit ihm.
Dann kam der Tag, an dem ich in mein Schwangerschaftstagebuch schrieb. „Ich sitze hier im Warteraum des Krankenhauses. Ich bin mir zu 99% sicher, dass alles gut ist, aber dieses 1% Unsicherheit lässt mir keine Ruhe. Ich weiß, ich mache mir unnötig Sorgen und es ist alles gut. So ist das eben, wenn man Mama ist. Und zum Glück habe ich noch mein Leben lang Zeit, um mir unnötig Sorgen um dich zu machen.“
An diesem Tag fand ich heraus, dass ich mir niemals Sorgen um mein Kind machen darf.
An diesem Tag hörte ich die Worte „Ihr Kind hat keinen Herzschlag mehr.“
An diesem Tag fragte ich ungläubig „Und jetzt? Was machen Sie jetzt, um mein Kind zu retten?“
Ich schaute auf mich selbst herab. Ich sah mich dort sitzend mit meinem Bauch. Mit meinem Kind. Ich war 39 Wochen und 2 Tage schwanger. Ich hörte mir zu, wie ich meine Geburtshaushebamme anrief und sie fragte, ob sie zur stillen Geburt meines Kindes ins Krankenhaus kommen würde. Wie ich meine Mutter anrief und streng mit ihr sprach: „Mama, du musst jetzt ruhig bleiben. Sag dem Papa, dass er Auto fahren soll.“ Und wie ich meinen Mann anrief, und ihm sagte, dass unser Sohn gestorben ist. Er kam sofort und brachte die Kinder mit. Er wusste, er würde kommen und alles würde sich klären. Es ist ein Krankenhaus. Es gibt eine Lösung.
Erst als ich sie sah, meinen Mann und meine Kinder, kamen die Tränen. Direkt dort auf dem Flur vor dem Aufzug. Wir hielten uns, wiederholten halb schreiend, halb flüsternd das Unvorstellbare. Eine Hebamme kam und führte uns in das Wehenzimmer. Die Ärztin kam und erklärte meinem Mann, das, was man nicht erklären kann. Unser großer Sohn klammerte sich an seinen Papa. Er ist 10. Er weinte, schluchzte, verzweifelte. Nur dieses eine Mal. Denn er lernte schnell, dass seine Rolle, aus seiner Sicht, eine andere sein musste im bisherigen Trauerprozess. Er wurde mein Beschützer und noch (es sind inzwischen 21 Wochen und 3 Tage seit diesem Tag vergangen) konnte ich ihm nicht beweisen, dass er dies nicht sein muss. Und unsere große, kleine Tochter (sie war noch 3) wollte, dass wir wieder glücklich sind. „Was ist passiert?“ fragte sie immer wieder. „Gael ist gestorben. Gael ist tot.“ antworteten wir ihr. „Tod ist lustig“ sagte sie. „Ich mag Tod“. Sie führte Kunststücke auf. Machte Fotos mit der Handykamera „Sag Cheese, Mama“.
Die Hebamme schaute immer wieder nach uns. Behutsam erklärten sie und die Ärztin die Optionen. Wir könnten direkt bleiben. Wir dürften aber auch nochmal nach Hause gehen. Die Geburt würde eingeleitet werden, wenn wir es wollten. Ich schrieb eine Nachricht an meine Kollegin, damit auf der Arbeit alle Bescheid wüssten. Ich rief meine beste Freundin an, damit sie es übernehmen würde, meinen anderen Freundinnen Bescheid zu geben. „Fährst du gerade Auto? Dann ruf mich zurück, wenn du angekommen bist.“ Und meine Schwester, die ausgewandert ist, aber gleichzeitig mit mir schwanger war. Ihr Sohn kam wenige Wochen nach meinem zur Welt. Lebendig. Unsere Tochter wurde langsam unruhig. Sie machte uns die Enge des großen Raumes bewusst, der inzwischen angefüllt war mit unserer Fassungslosigkeit, unseren Tränen und Wimmern. Wir wollten nach Hause. Am nächsten Abend, am Sonntagabend, würden wir wieder kommen. Die Einleitung würde vermutlich mehrere Tage dauern. Am Mittwoch würde unser Kind auf die Welt kommen.
Und dann fiel es mir ein: Gael hatte keine eigene Kleidung. Ich hatte so viel geschenkt bekommen von Freundinnen mit Babys, die wenige Monate älter waren als unser Sohn, dass ich damit mehrere Babys hätte einkleiden können. Für direkt nach der Geburt sollte er den ersten Strampler seiner Schwester anziehen. Und dann würden wir ihm eigene Kleidung kaufen. Wenn wir wissen würden, ob es ein warmer oder kalter Sommer ist und ob er eher lang, wie sein großer Bruder oder breit, wie seine große Schwester werden würde. Aber dieses eine Mal wollten wir ihm Kleidung kaufen. Für ihn. Kleidung, die er tragen würde, wenn wir ihn in seinen Sarg legen würden.
Wir riefen im kleinen Babyladen an. Ja, sie wartete auf uns. Wir waren allein im Laden. Wir brauchten nicht lange, aber lange genug, dass sich die Verkäuferin um Kopf und Kragen reden konnte. Es ist ein Neugeborenes. Es braucht warme Kleidung. Einen langärmligen Body mit Tigern darauf, weil seine große Schwester Tiger so liebt. Eine Wollhose in Himmelblau für unseren Jungen. Beides in zwei Größen, falls Gael klein sein würde bei der Geburt. Aber das war er nicht. Er brauchte die größere Größe. Und eine Rassel mit einem schlafenden Elefanten, die sein großer Bruder aussuchte und sie ihm später mit ins Grab gab. Dann gingen wir Eis essen. Wir gingen langsam durch die Innenstadt. Ich war stolz auf meinen Bauch. Ich wusste, dass dies mein letztes Eis sein würde. Ich wusste, dass dieser Stadtspaziergang mein Abschied von der Welt sein würde.
Zu Hause rief ich die Hebamme an. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen. „Bitte bring den Doppler mit. Ich sehe doch, wie mein Bauch sich bewegt. Ich spüre doch, wie mein Kind seinen Rücken herausstreckt. Ich spüre, wie sich sein Köpfchen in meinem Becken bewegt. Ich weiß die Bewegungen sind träge, aber er bewegt sich.“ Dann telefonierten wir mit meiner Schwiegermutter. Sie ging freudestrahlend ans Handy. Jetzt würde sie ihren Enkel sehen. Und dann zogen wir auch ihr den Boden unter den Füßen weg. Zum zweiten Mal in ihrem Leben musste sie diese Erfahrung machen. Einmal als Mama und einmal als Oma. Auch für meinen Mann war es das zweite Mal. Einmal als großer Bruder und einmal als Papa. 5 von 1000 Kindern sterben um den Geburtstermin herum. Bei Frauen über 40 sogar 14 von 1000 Kindern, erklärte mir Monate später der Chefarzt. Ich weiß, dass wir schließlich einschliefen. Alle 5 im großen Bett.
Um Mitternacht herum wurde ich wach. „Die Wehen gehen los.“ sagte ich zu meinem Mann. Niemals werde ich seinen Blick vergessen, als ich diese Worte sagte. So sehr hatte er sich darauf gefreut, sie zu hören. Alles war geplant, alles war vorbereitet. So schmerzlich klangen nun diese Worte, denn es würde eine Geburt geben, aber es würde kein Kind geben. Ich schrieb meiner Schwiegermutter, dass die Geburt nun losginge, dass sie sich keine Sorgen machen solle, dass ich mich freuen würde, mein Kind zu sehen und zu halten. Ich hatte mich monatelang auf die Geburt vorbereitet. Schon auf die meines 2. Kindes. Die Meditationen waren mir so leichtgefallen. Ich kannte sie auswendig. Ich brauchte sie nicht. Selbst jetzt nicht. Mein Körper zeigte mir, was ich zu tun hatte. Ich war bei mir. Ich war unendlich traurig, aber mein Körper wusste, was zu tun war.
„Ich bin hier für die stille Geburt“ meldete ich mich im Kreißsaal an. Alle wussten Bescheid. Eine Hebamme betrat unsicher den Raum. War es Unsicherheit? Oder Unbehagen? Ich entschuldigte mich bei ihr, weil ich einen Müsliriegel aß. Wie kann man ein totes Kind zur Welt bringen und Hunger haben? Sie schaute mich ängstlich an oder war es angeekelt? Schließlich kam unsere Hebamme. Isa. Sie wusste, was zu tun war. Sie war da. Sie war liebevoll. Wir hatten ihr wohl mitgeteilt, dass meine Geburtshaushebamme zur Geburt dazukommen würde. „Vielleicht hat sie ihr Handy gar nicht an, weil wir uns eigentlich morgen erst sehen sollten.“ erklärte ich Isa. Schließlich rief sie meine Hebamme an. Sandra. Sie ging sofort ans Handy. „Es ist noch Zeit.“ versicherte ihr Isa. Der Muttermund war erst 3cm geöffnet. Wir blieben allein im Zimmer zurück. Alle haben sich vertan. Gael lebt. Ich wusste immer, dass er leben würde. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt daran gezweifelt. Vielleicht gibt es einen Zwilling. Vielleicht kommt zuerst ein totes Kind auf die Welt, das zuvor noch niemand entdeckt hatte, aber in Wirklichkeit lebt mein Kind. Wir hörten die Meditation. Irgendwie hatte ich es hinbekommen, eine E-Mail zu verschicken, denn die Meditation für eine stille Geburt ist (noch) nicht in der App. Jetzt hatte ich sie aber zum Glück auf meinem Handy. „Heute ist es so weit. Dein Baby wird geboren. Du darfst dich entspannen. Du darfst deinen Körper entspannen…“ Wie oft hatte ich diese Worte gehört und diese Stimme. Ich begann zu schluchzen und zu weinen. Die Stimme, die mich auf meinen Reisen zu meinem Kind begleitet hatte. Nun lag ich im Kreißsaalbett und wusste, dass mein Kind nicht mehr lebte. Kristins Stimme machte mir dies bewusst. Sie war ein Schlüssel zur Wahrheit und zur Realität. „Denk daran, dass du nun deinem toten Kind Platz bereitest, dass es geboren werden kann. […] Du siehst, dass es ihm hier gut geht. Und vielleicht spürst du Freude, wenn du erkennst, dass es ihm gut geht. […] Du bist tief verbunden. […] Du bist die Mutter deines Babys.“
Ich weiß nicht, ob es diese Worte waren, ob es mein Weinen war, über den Verlust meines Kindes. Ob es war, weil ich nun einen Zugang zu meinen Gefühlen hatte. Ich war bisher entspannt und konzentriert gewesen. Ich kannte die Geburtsarbeit und war eine erfahrene Gebärende. Ohne Probleme war ich bei jeder Welle abgetaucht, hatte das Gespräch unterbrochen, war bei mir gewesen, hatte tief in den Bauch geatmet. Und jetzt nach den Worten der Meditation lag ich weinend auf der Seite. Mein Mann stand mir hilflos gegenüber. Er hielt meine Hand. Er war sprachlos. Er war blass vor Verzweiflung und Schmerz. Auf einmal spürte ich ein unangenehmes Gefühl. Die Fruchtblase. Sie machte ein richtig lautes Geräusch, als sie platzte. Es war meine dritte Geburt, aber das erste Mal, dass ich spürte, wie sie platzte. Mein Mann rief unsere Hebamme. Sie berichtete mit einem mitfühlenden Blick, dass das Fruchtwasser leicht grünlich und blutig sei. Ein Schock für mich. Ein weiterer Schritt auf dem Weg der Realisierung: Mein Kind ist wirklich tot. Später sollte mir diese Beschreibung des Fruchtwassers ein großer Trost sein. Das Fruchtwasser gestresster Kinder sieht wie Erbsensuppe aus. Die leicht grünliche Verfärbung des Fruchtwassers meines Kindes ist dadurch zu erklären, dass sich nach seinem Tod die Muskeln entspannten. Dadurch ging etwas Mikonium ab. Mein Kind war friedlich und für immer eingeschlafen. Es hatte keine Angst als es starb.
Isa fragte mich, ob ich nochmal auf Toilette gehen wolle. Zusammen mit meinem Mann ging ich auf Toilette. Gerade noch war ich ganz ruhig gewesen, hatte die Öffnung des Muttermundes ruhig veratmet. Aber nun mit dem Platzen der Fruchtblase wurde es sehr schnell. Ich wusste, dass wir zurück in den Kreißsaal mussten, wenn ich mein Kind nicht auf der Toilette bekommen wollte. Dort wartete meine Hebamme Sandra auf mich. Sie hatte mich über 2 Schwangerschaften hinweg betreut und auch die Geburt und das Wochenbett meines 2. Kindes. Ich stützte mich auf sie, um eine Wehe zu verarbeiten. Ich spürte ihre Kraft, mein Vertrauen in sie und ihre Zuversicht. Isa hatte sie angerufen, aber sie hatte schon im Auto gesessen, weil sie nicht so ganz hatte glauben können, dass die Geburt lange dauern würde. Isa hatte mir Wasser in die Wanne eingelassen. Inzwischen war auch die Ärztin da.
Die drei Frauen waren wie ein eingespieltes Team. Ich diskutierte mit ihnen. Ich hatte mir eine Wassergeburt gewünscht, aber war mir nun nicht sicher, ob ich doch lieber eine PDA bekommen würde. „Warum?“ fragte die Ärztin. „Weil ich zu emotional bin. Ich bin nicht bei mir. Ich kann mich nicht entspannen und konzentrieren. Ich bin nicht in meinem Tunnel. Ich höre alles. Ich sehe alles. Ich fühle alles. Und ich will keine Schmerzen haben. Nicht für diese Geburt.“ Ich sprach nicht weiter, aber alle wussten, was ich meinte. Ich wollte keine Schmerzen haben bei einer Geburt, ohne die Aussicht auf mein Kind. Sie überzeugten mich, dass ich das Wasser ausprobieren könnte und jederzeit herauskommen könnte, wenn ich es nicht wollen würde. Ich veratmete eine weitere Welle. Stehend, leise, kontrolliert und konzentriert.
Dann ging ich in die Wanne. Was dort passierte, ist auch jetzt noch kaum begreifbar für mich. Mein Körper berührte das Wasser. Ich glaube, ich war nackt, aber ich weiß es nicht mehr genau. Ich ging in den Vierfüßlerstand. Mein Mann hielt meine Hand. Ich merkte, wie mein Kind nun kommen würde und wehrte mich ein letztes Mal. „Ich will eine PDA. Ich will das nicht spüren. Es fühlt sich so falsch an.“ Ich schrie diese Worte. Die Ärztin erklärte mir streng, dass eine PDA viel zu lange dauern würde, dass mein Kind bis dahin längst auf der Welt sein würde. Ich gab auf. Und gab mich der heftigen Austreibungsphase hin. Ich spürte, dass ich ein totes Kind auf die Welt brachte. Ich schrie noch einmal „Es fühlt sich so falsch an“. Dieser Satz würde für viele Wochen der einzige Satz sein, den ich sagen konnte. „Es fühlt sich so falsch an.“ Ein Satz, der alles, was eine trauernde Mutter empfindet, beschreibt. Dann wurde mein Kind geboren.
Bei der Nachbesprechung der Geburt, viele Monate nach diesem Moment, staunte ich über das Zeitprotokoll. Ich war nur ca. 4 Minuten im Wasser, bis mein Kind zur Welt kam. Meine Hebamme sagte bei der Wochenbettbetreuung „Es war, als habe dein Körper nur auf sein Element, das Wasser, gewartet.“ Ich war wütend auf meinen Körper. Für mich fühlte es sich so an, als habe er mein Kind schnell loswerden wollen. Dabei war ich noch lange nicht dazu bereit gewesen, es herzugeben.
Unser Sohn wurde im Wasser geboren. Er erlebte seine eigene Geburt nicht. Mein Kind hatte die Nabelschnur sechs Mal um den Hals gewickelt. Ich sah es so nicht, aber mein Mann war sehr mitgenommen von dem Anblick unseres Sohnes und wie die Hebamme ihn von der Nabelschnur befreite. Aber das hatte ihn nicht getötet, wie wir kurz darauf feststellten. Mein Mann nabelte unseren Sohn ab. Ich hielt ihn im Arm. Isa wollte, dass ich für die Geburt der Plazenta schnell die Wanne verließ. Aber ich ignorierte sie. Ich hielt mein Kind in den Armen. Die Plazenta wurde geboren. Das Wannenwasser färbte sich rot. Ein friedliches Rot. Ein Rot, dass ich niemals vergessen werde. Dann verließ ich die Wanne. Die Erinnerungen sind sehr unterbrochen. Ich denke, ich wurde untersucht, hatte aber keinerlei Geburtsverletzungen. Ich lag auf jeden Fall wieder auf dem Kreißsaalbett. Mein Mann hielt unser Kind. Ich machte einige verschwommene Fotos mit der Handykamera von ihm und unserem Sohn. Es sind die einzigen, die wir haben, auf denen er ihn trägt.
Dann hörten wir, wie die Hebamme uns erstaunt rief. Sie hatte gefunden, was Gael das Leben genommen hatte. Sie zeigte uns den Knoten in der Nabelschnur. Er hatte sich so fest zugezogen. Wir sahen, wie sich vor dem Knoten ein Blutstau gebildet hatte. Unser Kind war an einem Knoten in der Nabelschnur gestorben. Wir kuschelten mit unserem Kind. Er war so still. Er war wie ein Neugeborenes. Wir hielten ihn. Immer abwechselnd. Denn er war schwer. Wir küssten ihn. Wir streichelten seine Haare. Wir bestaunten seine wunderschönen Hände. Wir sahen aber auch die Verletzungen. Gael war nicht erst gestern gestorben.
Im Nachhinein bin ich mir sicher, seinen Todeszeitpunkt genau zu kennen. Aber ich hatte es nicht verstanden. Ein Teil unserer Geschichte rund um die stille Geburt, die mich zuerst beschämte. Wie konnte ich nicht sofort gemerkt haben, dass mein Kind gestorben war? Mich aber nach und nach mit Dankbarkeit auf die Tage vor der stillen Geburt zurückblicken ließ. Im Nachhinein konnte ich genau konstruieren, wann mein Körper mir signalisiert hatte, dass mein Kind gestorben war und auch, wie mein Unterbewusstsein schon längst wusste, was geschehen war. Es war nur mein Verstand gewesen, für den diese Möglichkeit nicht existierte. „It’s to big.“ Sagte eine Freundin zu mir. Zu groß war es gewesen. Zu unvorstellbar. Ich hatte Tage gebraucht, damit sich mein Verstand auf die Idee einlassen konnte, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte. Dass mein Kind 4 Tage vor dem ET still zur Welt kommen könnte, diesen Gedanken konnte mein Verstand auch dann nicht fassen, als die ersten Zweifel aufkamen. Im Nachhinein bin ich dankbar für die unbeschwerten Tage, die uns mein Verstand schenkte, der nicht zulassen wollte, dass ich begriff, was geschehen war. 4 Tage schenkte er uns. Mit unserem Sohn in meinem Bauch und gleichzeitig schon in seiner Welt. 4 Tage, in denen sich mein Körper auf die stille Geburt vorbereiten konnte und mein Kind in nur 3 Stunden auf die Welt brachte, ohne dabei verletzt zu werden. Ich glaube, dass sich viele Außenstehende nichts Schlimmeres vorstellen können, als eine stille Geburt.
Die stille Geburt war, auch wenn sie unkompliziert war, sicherlich keine schöne Geburt, denn ich merkte während der Austreibungsphase nur zu deutlich, dass ich ein totes Kind auf die Welt brachte und auch die Eröffnungsphase war von einem Schwall von Emotionen begleitet, die zwar wichtig für den Trauerprozess waren, aber in diesem Moment kaum auszuhalten. Und dennoch. Nein. Eine stille Geburt ist nicht das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Nach allem Schmerz und den absurdesten Situationen, die ich inzwischen erlebt habe, kann ich bestimmt sagen, dass das Schlimmste und Schwierigste war, mich von meinem Kind zu verabschieden. Wie kann sich eine Mutter von ihrem Kind verabschieden nach nur wenigen Stunden, die es auf der Welt ist? Wie? Der Abschied von unserem Kind im Krankenhaus war das Schlimmste, was ich rund um die stille Geburt erleben musste. Mein Kind herzugeben, dessen ganzes Leben ich vor mir sah, mein Kind, das ich stillen wollte, es aufwachsen sehen wollte, sehen wollte, wie es eines Tages seine eigene Familie gründen würde. Inzwischen weiß ich, dass ich mich niemals verabschieden werde. Ich verabschiedete mich zu 3 Zeitpunkten, eingebettet in 3 unterschiedliche Rituale von dem toten Körper meines Kindes. Aber ich werde mich niemals von meinem Kind verabschieden. Es bleibt bei mir, solange ich lebe.